23.08.22

Hey, ihr lieben virtuell Mitreisenden! Dieser Eintrag kommt ein wenig spät, denn die Ereignisse haben sich überschlagen. Neben vielen schönen Dingen mussten wir leider kurz vor Ende der Bootsfahrt erleben, wie der Amazonas ein Menschenleben verschluckt hat. Das zu verdauen hat einige Tage gedauert (und weswegen der Ton heute auch ein anderer ist, als sonst) … aber nun von vorne:

Innerhalb von 7 Tagen hat uns die Monteiro auf 1600 km von Manaus (Brasilien) nach Tabatinga bzw. Leticia (Kolumbien) geschippert. Eine Zwillings-Urwaldstadt. Alleine hätte ich so eine lange Fahrt eher nicht gemacht, aber zu dritt (mit Freunden aus D) schien es mir eine interessante Sache.

Die Monteiro ist kein Luxusdampfer, sondern ein regelmäßig verkehrendes Passagier- und Frachtschiff, das diesen eher weniger befahrenen Abschnitt des Amazonas bedient. Am Board trafen wir noch Ivan (franz.) und Cesar (bras./ital.) – und das hat die Reise doch gleich um ein Vielfaches lustiger gemacht. An Tag 1 ist dieses Foto entstanden, das im Hintergrund ein Naturphänomen zeigt: the meeting of the waters.

Los Gringos Locos antes da encontro das aguas (ich, Ivan, Chris, Ronny, Cesar, vorne Denise)

„Encontro das aguas“ ist die Stelle, an der der schöne, klare Rio Negro und der schlammige Rio Solimoes zunächst unvermischt nebeneinanderherfließen und später den eigentlichen Rio Amazonas bilden.

Voll beladen, mit 4 Kapitänen, 4-5 Servicekräften sowie ca. 300 Einheimischen und eben uns 5 Gringos ging es los auf die erste Etappe, die gleich mal 2 Tage dauerte, ohne Stopp.

Auf einem Boot reist der Großteil der Einheimischen im Lower Deck in Hängematten. Und Ivan und Cesar auch 😉
Die Monteiro
Meine Kabine im Upper Deck
Sala de Estar (Aufenthaltsraum)
Das wunderschöne Badezimmer
Klospülung mit Flusswasser: ökologisch sinnvoll, sieht aber echt scheiße aus

Ich bin von diversen Low-Budget-Reisen allerdings noch Schlimmeres gewohnt, allen voran „Toiletten“ in Tibet, Indien und der Mongolei … deswegen komm ich klar. Und abgesehen davon hab ich ja eh keine Alternative 😉.

Wenden wir uns also den schönen Dingen zu, wie z.B. den traumhaften Sonnenuntergängen, die wir Abend für Abend bewundern durften.

No filter, I promise!!! Wie ein Leuchtfeuer in der Nacht …

Die Milchstraße sehen wir auch, denn es ist überraschend dunkel auf dem Fluss. Kaum was los. Und bei uns selbst brennen nachts nur ein paar Funzeln. Vielleicht zum Stromsparen? Jedenfalls gleiten wir Nacht für Nacht fast durch völlige Finsternis.

Das Boot macht erstmal ordentlich Strecke, bevor es dann nach 2 Tagen zum ersten Mal hält. Keiner kann immer genau sagen, wie lang der Entladungsvorgang geht, und so trauen wir uns erstmal nur in die nächste Flussdorfkneipe beim ersten Stopp und kehren schnell wieder aufs Boot zurück.

Unterdeck ist voll mit Lieferware, und die Kühltruhe (weiße Klappe) ist ebenfalls randvoll. Sie ist so groß, wie die Grundfläche des Boots.
Sogar Autos werden verschifft.
Denise, unsere Koordinatorin an Bord, zwischen Unmengen an Waren

Ihr könnt euch vorstellen, dass das lange dauert, bis entladen ist, was am jeweiligen Stopp entladen werden soll. Eine logistische Meisterleistung. Wenn mehr Zeit war, nahm uns Denise (hinten im Bild) mit auf kleine Exkursionen mit dem Beiboot.

Kleine Exkursion mit Denise und einem unserer Kapitäne
An hübschen kleinen Dörfern vorbei

Wir treffen dabei auf verschiedene ‚Ribeirinhos‘. Flussbewohner. Und das gefällt uns sehr gut. Es zeigt den ganz normalen Alltag am Amazonas.

Erster Fischer, von dem wir etwas kaufen
Piranha-Fischerin, von der wir auch etwas kaufen
Besuch in einer Siedlung
Die Familie lebt hier seit 60 Jahren.

Unsere Männer spielen Fußball mit dem Sohn der Familie, während ich mich für den Garten interessiere.

Cashewfrucht mit Cashewnuss
Avocadobaum
Hübsch angelegtes Pimenta-Beet (weiß nicht genau, ob Pfeffer oder Chili)

Die Bewohner waren sehr freundlich, wenn auch vielleicht etwas überrascht über unseren Besuch. Ich glaube, Denise und der Kapitän haben das relativ spontan organisiert, weil wir den Wunsch geäußert haben, auch mal durch ein Dorf zu laufen.

Abschiedsfoto nach einem etwa 1-stündigen Besuch im Dörflein

Die Verständigung auf brasilianischem Portugiesisch hat dank Cesar, der sowohl Portugiesisch als auch Englisch spricht, gut geklappt. Ohne ihn wären wir verloren gewesen, denn auch Denise und der Kapitän konnten kein Englisch. Und das bisschen Spanisch, das wir alle konnten, kam auch recht schnell an seine Grenzen. Meistens kann man noch eine Frage stellen, aber schon die Antwort versteht man dann nicht mehr.

Cesars Interesse an Linguistik hatte noch mehr Vorteile für uns: Er hat einfach zusammen mit Denise auf dem Boot herumgefragt, ob Indigene an Bord sind. Und siehe da: Natürlich! Und so hat er die Indigenen in unserem Aufenthaltsraum zusammengetrommelt, wo jeder ein bisschen erzählt hat und auch Fragen stellen durfte. Das war sehr, sehr schön. Wir haben uns alle in unserer Muttersprache vorgestellt, das dann selbst ins Englische übersetzt und Cesar dann ins Portugiesische. Ein rechtes Babylon war das 🙂

Die älteste Indigene an Bord. Sie war 70 Jahre lang die Hebamme und die ‚Medica‘ in ihrem Stamm an der kolumbianischen Grenze.
Kleiner Beitrag zur Völkerverständigung: junge und alte Indigene und wir

Man mag überrascht sein, wie modern die indigenen Jungs aussehen. Ich denke, auch da wird es innerhalb der Stämme geteilte Meinungen geben: Einige wollen traditionell weiterleben, andere wollen in die moderne Zivilisation. Es fiel oft der Begriff „semi-integriert“. Das trifft es wahrscheinlich ganz gut.

Jedenfalls muss man sich von der Vorstellung verabschieden, dass man direkt am Ufer noch „echte“ Wilde im Baströckchen rumhüpfen sieht. Dafür muss man sicher erstmal einen Tagesmarsch oder zwei tief in den Urwald.

So gingen die Tage vorbei, und ab und zu ist dann auch noch etwas Außerplanmäßiges passiert, wie z.B. dass Ivan, Cesar und Ronny zu lange in einer Flussdorfkneipe abgehangen sind und unser Boot einfach ohne sie abgelegt hat – kein Witz! Chris und ich konnten nichts tun (wir waren an Bord geblieben).

Knallhart – die Monteiro fährt einfach weiter, obwohl noch Passagiere fehlten!

Das Beiboot musste sie einsammeln. Oder dass ein anderer Kahn fast gekentert wäre, und wir mit unserer Wasserpumpe aushelfen mussten.

Oder wie wir mitten in der Nacht auf einen versunkenen Baumstamm aufgelaufen sind und mehrere Stunden daran festhingen. Es passierte doch so einiges.

Das schlimmste Ereignis aber trug sich wirklich kurz vor dem Ende der Fahrt zu, und es hat mich ziemlich erschüttert.

Der letzte Hafen (Tabatinga) war in der Ferne schon in Sicht, als ich an der Reling stehe und auf einmal Hilferufe aus dem Wasser höre. AJUDA!!! AJUDA!!! Ein Mann treibt im Amazonas. Er klammert sich an einen blauen Plastikkanister, treibt immer weiter. In einiger Entfernung sitzt ein weiterer Mann regungslos in einem winzigen Holzboot, er schaut dem anderen nach.

Mittlerweile haben alle die Hilferufe gehört und den Kapitän informiert. Wir wenden und suchen den Mann. Man muss dazu sagen, dass es nachts stockfinster ist auf dem Amazonas. Kaum Boote, keine Uferbeleuchtung. Nur unser Scheinwerferkegel und ein paar private Taschenlampen.

Nach einigen Minuten finden wir den Mann wieder. Er ruft immer noch und strampelt panisch mit den Beinen. Den Plastikkanister umklammert er immer noch. Vor meinem geistigen Auge zieht die Rettungsschwimmer-Fortbildung, die ich mit Kollegen erst kürzlich gemacht habe, vorbei. Das wäre jetzt genau die Situation: den Ertrinkenden anschwimmen und sich mit einem gekonnten Griff aus seiner mutmaßlichen Umklammerung befreien, um ihn dann in Rückenlage ans Ufer zu schleppen. Aber das hier? Bei so hohem Wellengang? Im größten Fluss der Erde, Piranhas on top? Ich fang an zu weinen. Irgendwie nimmt mich das ziemlich mit. Wie wird das ausgehen? Dann endlich wirft jemand einen Rettungsring. Nur leider nicht weit genug. Scheiße. Er treibt immer noch stromabwärts. Und wo ist eigentlich unser Beiboot? Das ist schon zum Hafen gefahren, weil wir ja so gut wie schon da waren. Ein großer Fehler, wie sich nun rausstellt.

Schließlich holen einige Männer eine Art Rettungsinsel aus Plastik vom Dach und lassen sie zu Wasser. Zwei Männer schwimmen mit der Rettungsinsel auf den Ertrinkenden zu. Es ist eine wilde und dramatische Szene, aber sie schaffen es und ziehen den Mann an Bord.

Rettungsaktion in der Finsternis

Puuuh… Echt krass. Der andere in seiner Nussschale kann auch gerettet werden. Kurzes Aufatmen. Doch dann sagt jemand einen Satz, den ich lieber nicht gehört hätte: „Sie waren zu dritt.“ Oh nein. Ich befinde mich in einem echten Drama. Das eben war nur das retardierende Moment. Wir fahren wieder los, stromabwärts. Suchen einige Minuten, dann wird klar, wir werden den Dritten mit unserem trägen großen Boot nicht einholen können. Der Amazonas hat ihn vermutlich längst verschluckt.

… dass so etwas noch am Ende der 7 Tage passieren muss … was soll man dazu sagen. Es war einfach nur sehr, sehr traurig.

So spendet der größte Fluss der Erde viel Leben. Aber manchmal nimmt er es auch.

Die Fahrt auf der Monteiro – auf jeden Fall ein unvergessliches Erlebnis!

Und nach 2 Tagen in Leticia (Kolumbien), die aber wenig spektakulär oder dokumentationswürdig waren, bin ich mittlerweile aus dem tiefen Dschungel ausgeflogen und an der Bahía angekommen, an der Ostküste Brasiliens. In einem sehr schönen Städtchen namens Salvador. Von hier aus geht es morgen (Mi., 24.8.) auf die Insel ‚Morro de Sao Paulo‘, einst eine Aussteigerinsel, auf die ich mich nun sehr freue.

Ganz liebe Grüße und bis bald!

Eure Claudi